Anja aus der Jebenstrasse
Anja aus der Jebenstrasse

Dies ist die Geschichte von Anja. Geboren1967 und aufgewachsen in einer Kleinstadt  in Polen.

Im Alter von 25  verließ sie ihr Elternhaus, ohne sich von ihrer Familie zu verabschieden.

Über 15 Jahre war ihre Familie im Ungewissen, wo sich ihre Tochter aufhält und ob sie noch am Leben ist.

 

Als ich Anja zum ersten Mal im September 2005 am Bahnhof Zoo in Berlin traf, lebte sie noch auf der Straße. Zwischen all den anderen Obdachlosen, die ich bisher gesehen hatte, fiel mir Anja besonders auf. Vom ersten Moment an wollte ich mehr über sie erfahren. Ich sah sie auf der Straße liegend, in dicke Jacken und bunte Tücher gehüllt. Sie war sehr abwesend und kaum ansprechbar. Zwischen ihren entblößten Beinen lagen Tomaten und Zwiebel, von vorübergehenden Passanten dahingeworfen.

 

Ich besuchte sie ein zweites Mal. Zu meiner Überraschung erkannte sie mich sofort. Aus dem Automaten in der Bahnhofshalle holte ich für uns zwei Becher Kaffee. Als ich zurück kam, hatte sie ihren Platz aufgeräumt und eine Decke für mich ausgebreitet. Ich machte das erste Foto. Das war der Beginn meiner Dokumentation über Anja und unserer bis heute andauernden Freundschaft.

 

Bei einem anderen Besuch lernte ich eine Frau kennen, die Anja schon länger kannte und sie regelmäßig besuchte. Sie erzählte mir einiges über ihre Vorgeschichte. Anja kam in Kontakt mit Personen aus dem Rotlichtmilieu. Über mehrere Jahre bewegte sie sich in diesem Umfeld. Diese Zeit hatte schlechte Auswirkungen auf ihr Leben. Danach wohnte sie für zwei Jahre in einer WG für psychisch instabile Menschen. Sie konnte sich nicht unterordnen und zog ein Leben in Freiheit auf der Strasse vor.

 

Es war ein großer Wunsch dieser Frau und ihres Mannes, für Anja eine Wohnung zu finden,

um ihr ein Leben in Würde zu ermöglichen. Dafür nahmen sie viele  Hürden auf sich. Seit Wheinachten 2005 - 2015 lebte Anja  in ihrer Wohnung. Sie war weiterhin auf die Betreuung dieser Menschen angewiesen, die alles dafür taten, um Anja zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen. Dieser Familie ist es auch zu verdanken, dass Anja nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder ihren Vater sehen und umarmen konnte.

 

Anja zog es wieder auf die Strasse. Sie hat sich sehr vernachlässigt. Ihr Zustand verschlechterte sich zunehmend. Ihre Gesundheit war gefährtet. Seit 4 Jahren lebt sie in einem Seniorenheim. Sie hat sich stabilisiert und sich gut eingelebt.

 

Als ihre Mutter starb, war Anja 16 Jahre alt. Sie war die wichtigste Bezugsperson in ihrem Leben. Der Tod ihrer Mutter und eine unglückliche Liebesbeziehung könnten der Grund für Anjas Veränderungen gewesen sein. Ihr Vater und ihre jüngere Schwester erzählten uns, dass Anja in ihrer Kindheit und Jugend sehr herzlich und lebenslustig gewesen sei, mit vielen Interessen. Die Familie lebte gut miteinander. Sie machte das Abitur, eine Ausbildung zur Kosmetikerin, nahm Klavier-und Gesangsunterricht, sowie Karate.

 

Anja spricht bis heute sehr wenig. Aber, wenn sie etwas sagt, drückt sie sich sehr klar aus.

Auf Fragen über ihre Vergangenheit gibt sie keine Antwort. Sie raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und nimmt auch sonst keine Drogen. Ganz selten sah ich sie traurig.

 

Ich erinnere mich es war im Dezember, Anja lebte noch auf der Strasse. Ich fragte sie, was sie an Weihnachten macht. Nach kurzem Zögern antwortete sie, Weihnachten ist überall schön. An diesem Tag hatte sie schon die Schlüssel in einem bestickten Beutelchen  für ihre erste Wohnung umhängen. Was ich nicht wusste. 

Anja hat ein sehr ausgeprägtes Sozialverhalten. Sie teilt alles und denkt immer zuerst an die Anderen.

Als ihre Betreuer ihr vor der ersten Reise nach Polen mitteilten, "Anja morgen fahren wir zu deiner Familie", fragte sie spontan, "Haben wir Geschenke?"

 

Anja hat mir über die Jahre sehr viel gegeben. Durch meine Arbeit möchte ich auch andere Menschen daran teilhaben lassen. Die Fotos auf dieser Seite sind nur eine Auswahl des gesamten Bildmaterials, das über die acht Jahre entstanden ist. Bereichert wird die Dokumentation mit Fotos, die mir ihre Familie aus den Familienalben hinterlassen hat.